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Kinder leiden unter trügerischer Harmonie

aus Spiegel:

Maulige Söhne, zickige Töchter, verwüstete Zimmer – Pubertät ist ein harter, aber für die Entwicklung der Identität notwendiger Kampf. Bei Alleinerziehenden geht es oft viel friedlicher zu. Aber die Harmonie trügt: Diese Kinder haben es viel schwerer, sich abzugrenzen und zu reiben.

Alles so schön ruhig hier. Für Professor Kurt Kreppner war es fast erholsam, wenn er zu Besuch bei alleinerziehenden Müttern und ihren halbwüchsigen Teenagern war. Der Wissenschaftler und seine Kollegen hatten während ihrer Studien häufig anderes erlebt. Dreieinhalb Jahre lang besuchten sie alle paar Monate 67 Familien mit pubertierenden Kindern, die meisten sogenannte Normalfamilien. Oft ging es dort ziemlich laut zu: Sie trafen auf maulige Söhne, zickige Töchter, verwüstete Zimmer.

Bei den Alleinerziehenden dagegen schien alles harmonisch zu sein. “Meine Tochter ist schon so selbstständig, die kauft ein und macht das Zimmer sauber”, schwärmte eine der Mütter. Und die Söhne erst – vorbildlich. Ersetzten den Heimwerker, reparierten die Spüle, spielten den Beschützer. “Wunderbar” war das alles auf den ersten Blick, erinnert sich Kreppner. Doch auf den zweiten Blick wirkte der Friede trügerisch.”

Der kürzlich pensionierte Entwicklungspsychologe war am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung der große Mann der Übergänge: Er hat erforscht, wie Paare Eltern werden. Wie das Erstgeborene vom kleinen Geschwister entthront wird. Wie sich Schulbeginn, Schulwechsel und Pubertät auf die Familien auswirken.

Sein Resümee nach 30 Jahren: So gut oder schlecht, wie Eltern die frühen Übergänge gemeistert haben, so kommen sie auch mit der Pubertät zurecht. Wer schon dem Zweijährigen Druck gemacht habe, endlich auf den Topf zu gehen, verlange auch vom 15-Jährigen zu viel Eigenständigkeit. “Der Umgang miteinander in der Pubertät”, so Kreppner, “fällt nicht vom Himmel.”

Manche Familien kennt der Psychologe seit gut 15 Jahren. Es gibt nicht viele Wissenschaftler mit einem so langen Atem. Kreppner hat alles erlebt: Familien, in denen ein Kind gestorben oder die Mutter an Krebs erkrankt ist. Und immer wieder Familien, die zerbrochen sind, weil der Vater weggegangen ist.

Solche Erfahrungen haben seine Skepsis gegenüber den “neuen Familienformen” bestätigt. “Für die Kinder”, sagt er – und ihm geht es immer um die Kinder – “wäre es bis auf ganz wenige Ausnahmen besser, die Eltern blieben zusammen.”

Kreppner hat für die Langzeituntersuchung 47 Normalfamilien und 20 Alleinerziehende ausgewählt. Zu allen gehörten jeweils zwei Kinder, von denen das Ältere zu Beginn der Studie zwischen elf und zwölf Jahre alt war. Die Jugendlichen mussten zweimal im Jahr einen Fragebogen ausfüllen, und mehrfach rückten die Forscher mit der Kamera an, um Familiendiskussionen zu filmen.

Die wichtige Grenze zwischen den Generationen verschwimmt

Etwa zu Dauerbrenner-Themen wie: “Das Badezimmer ist jeden Morgen in einem katastrophalen Zustand, wenn das Kind seine Morgentoilette beendet hat.” Da sind dann zwangsläufig heftige Auseinandersetzungen zu beobachten. Aber genau das brauchen die Jugendlichen, sagt Kreppner: Insbesondere in der Konfrontation mit den Regeln der Eltern könnten die Kinder ihre Identität entwickeln.

Bei diesen Konflikten stehen sich in Normalfamilien fast immer die Mütter und die Kinder gegenüber: “Räum dein Zimmer auf!”, “Hast du Mathe gelernt?”, “Hör doch mal auf zu telefonieren.”

Die Forscher fanden es erstaunlich, dass es bei den Alleinerziehenden meist viel friedlicher zugeht. Für die Mütter mag das auf den ersten Blick praktisch sein – aber für die Jugendlichen verschwimmt dadurch die für sie wichtige Grenze zwischen den Generationen, sie müssen mit -einer Art Freundin oder großen Schwester verhandeln. Und gegenüber einer Freundin fällt -Opposition viel schwerer.

Schon rein äußerlich, so fiel dem Psychologen Kreppner bei seinen Hausbesuchen auf, nähern sich Solo-Mütter und ihre Töchter geradezu krampfhaft an: “Die Frauen machen auf fesch und frisch, dagegen wirken auf den Videos die Mütter in Normalfamilien deutlich gealtert.”

Die Kinder der Alleinerziehenden haben letztlich niemanden, von dem sie sich abgrenzen und an dem sie sich reiben können. Warum das wichtig ist? “Die bisherigen, kindorientierten Lebensformen sind in der Pubertät nicht mehr angemessen”, sagt Kreppner, “es muss eine neue Balance gefunden werden – und das geht nicht ohne Reibung.”

Angst vor einem erneuten Verlust hemmt die Kinder

Zwei Faktoren scheinen dabei unheilvoll zusammenzuspielen: Alleinerziehende Mütter sind oft mit der Bewältigung des Alltags enorm belastet: Sie müssen Geld verdienen, die Wohnung in Ordnung halten, die Getränkekisten besorgen, sich mit den Lehrern herumärgern. Und manchmal sind sie auch mit der Suche nach einer neuen Liebe beschäftigt. Derweil lassen sie dem oder der Pubertierenden oft große Freiheiten.

Und das Kind? “Es findet natürlich erst einmal toll, dass ihm so viel erlaubt ist”, sagt Kreppner. Und es schlägt dabei ganz selten über die Stränge. Schließlich hat es durch die Trennung der Eltern erlebt, dass selbst Beziehungen in der Kernfamilie nicht von Ewigkeit sind. “Bei den meisten ist die Angst da: Ich darf keine ganz schlimme Revolte machen, sonst verlässt mich die Mutter womöglich auch noch.”

Daher die scheinbare Harmonie, wenn das Max-Planck-Team in diese Familien kam. Oft erst gegen Ende der Pubertät beklagten sich die Teenager. Darüber, dass die Mütter nicht da waren, wenn sie gebraucht wurden – oder dass diese ihre Rolle nicht richtig ausgefüllt hätten. Ein Dialog, den die Forscher dokumentiert haben, zeigt dies drastisch: “Ich erzähl dir meine Sorgen und Probleme, und du stehst da und lachst”, beklagt sich eine Mutter bei ihrem 15-jährigen Sohn. Und der sagt: “Ich bin nicht deine Mutter. Wenn du Probleme hast, dann kannst du zu weiß ich nicht wem gehen, aber nicht zu mir.”

Da erstaunt es nicht, dass diese Kinder sich oft ganz in ihre peer group zurückziehen, zu ihren gleichaltrigen Freunden. Spätestens dann, sagt Kreppner, sollte aber Schluss sein mit der langen Leine. “Kümmern Sie sich darum, welche Freunde Ihr Kind hat”, rät der Psychologe. Notfalls seien auch Verbote auszusprechen. “Natürlich lehnen Kinder solche Kontrollen erst einmal ab – trotzdem erfahren sie damit, dass die Eltern sich kümmern. Das gehört zum Spiel dazu.”

“Dann geh ich halt zu Papa!”
Studien aus den USA zeigen: Wer mit seinen Eltern gut auskommt, hat auch die richtigen Freunde. Kinder von alleinerziehenden Müttern tun sich dagegen oft schwer damit, den passenden Freundeskreis zu finden.

Und was ist, wenn die Mutter selbst gerade frisch verliebt ist, während das Kind in die Pubertät kommt? “Dann ist erst einmal die Hölle los”, sagt Kreppner.

Er erinnert sich an eine Familie mit zwei Kindern. Die waren jahrelang allein mit der Mutter, dann zog der neue Freund ein. Nach etwa zwei Monaten sagte der Mann zu dem 14-Jährigen: “Wenn du das nächste Mal auf dem Klo warst, mach doch bitte sauber.” Der Junge ging, nahm die Klobürste und warf sie dem Erwachsenen ins Gesicht mit den Worten: “Du hast mir hier gar nichts zu sagen.”

Für Kinder, sagt Kreppner, ist der neue Freund der Mutter mitunter eine enorme Bedrohung. Besonders dann, wenn das neue Paar eigenen Nachwuchs bekommt, werden die vorhandenen Kinder häufig an den Rand gedrängt. Manche Evolutionsbiologen behaupten sogar, der neue Mann wolle die Kinder oft regelrecht wegbeißen.

Für die ist mitunter allein das Gefühl bedrückend genug, dass nach Jahren plötzlich jemand kommt, der sie aus ihrer etablierten Rolle als Beschützer drängt, sie sozusagen vom Sockel stürzt. “Eine Art griechische Tragödie”, nennt Kreppner das.

In der Familie mit der Klobürste sind die Kinder schließlich zum geschiedenen Vater geflohen. “Wenn wir uns heute die Video-Aufnahmen anschauen, so sind sie bei ihm viel entspannter”, sagt der Psychologe. “Es war eine gute Entscheidung.”

“Dann geh ich halt zu Papa!” In vielen Scheidungsfamilien ist das ein geflügelter Satz während der Pubertät eines Kindes. Wer jedoch zwischen den Eltern hin und her pendelt und sich dort aufhält, wo er oder sie gerade die größten Freiheiten hat, kann so auch allen Konflikten ausweichen. Deshalb ist Kreppner auch kein Freund von Patchwork- Familien: “Oft geht es da unverbindlicher zu, und es gibt nicht so viel Konfliktstoff. Das fehlt den Kindern.” Außerdem sei es für viele Teenager großer Stress, sich mit neuen Halbgeschwistern anfreunden zu müssen. Auf die und deren Eigenarten treffen sie von einem Tag auf den anderen, statt sich, wie in Normalfamilien, langsam aneinander gewöhnen zu können.

“Stellen Sie sich vor, Sie kommen auf eine Tagung und es ist kein Einzelzimmer mehr frei: Sie können nur noch mit einem anderen Teilnehmer auf ein Doppelzimmer”, erklärt Kreppner. “So ähnlich geht es Patchwork-Kindern.”

Aber schult das nicht ungemein fürs Leben? Sich auf verschiedene Familienkulturen einstellen: bei Mama der Große sein, bei Papa eine Bande neuer Geschwister bekommen? Sich durchsetzen?

Ja doch, sagt der Forscher, es gebe gelungene Patchwork- Pubertäten. Aber nur wenn allen Beteiligten bewusst sei, dass man nicht in einer Normalfamilie lebe. Dass man sich immer wieder zusammenraufen müsse: “Das kann Kinder stark machen.”

Großeltern spielen im Scheidungschaos eine wichtige Rolle

Der Preis dafür sei allerdings hoch, besagt die Max-Planck-Studie: Oft sind die Schulnoten deutlich schlechter, weil die Kinder viel Energie brauchen, ihre Beziehungen zu regulieren; sie müssen ständig klären, wer zum inneren Kreis der Familie gehört und wer welche Stellung innehat.

Am besten gelinge das Leben in einer Patchwork-Familie, wenn die Kinder allmählich in eine solche Situation hineinwüchsen, hat der Psychologe beobachtet. Sollten also Eltern, die an Trennung denken, möglichst bald auseinandergehen – solange die Kinder noch klein sind? So weit will Kreppner dann doch nicht gehen.

Aber wenn schon Scheidung, so sollten die Eltern doch zumindest versuchen, in Erziehungsfragen auch nach der Trennung eine gemeinsame Elternrolle aufrechtzuerhalten. Und sehr hilfreich sei bei allem Nach-Scheidungschaos eine verlässliche Bezugsperson.

In der Berliner Studie zeigte sich: Wenn Scheidungskinder eine Großmutter oder einen Großvater als ständig verfügbare Bezugsperson hatten, kamen auch sie vergleichsweise gut durch die Pubertät. “Großeltern spielen in solchen Zeiten eine ungemein wichtige Rolle”, sagt der Forscher.

Eine Erfahrung, die er seit einiger Zeit auch persönlich macht. Noch hat Kreppner ein Büro im Max-Planck-Institut, wo seine Forschungsfilme derzeit digitalisiert werden. Aber schon seit 2004 ist er im Ruhestand, nimmt zwar noch an Tagungen teil, ist im Hauptberuf jedoch Großvater. Und damit ein wichtiger care-taker, wie es im Wissenschaftler-Jargon heißt.

Und deshalb hat Kurt Kreppner jetzt auch genug erzählt. “Sie entschuldigen mich bitte”, sagt er höflich, “aber Freitag ist bei uns Enkel-Tag.”